Sprache und Kultur: Bestimmen unsere Emotionen die Grammatik?

Wie wir fühlen, so sprechen wir auch. Oder fühlen wir nur so, wie wir sprechen? Der Zusammenhang zwischen der Grammatik einer Sprache und der emotionalen Kultur scheint evident und ist dennoch seit Jahrzehnten Gegenstand der Forschung und intensiver Auseinandersetzungen. Schafft die Neurologie Klarheit?

Wer Japanisch lernt, bekommt es mit gleich drei harten Gegnern zu tun: Mit einem Vokabular, das keine Verwandtschaft zu unserer Sprache aufweist, mit einem völlig andersartigen Schriftsystem, und mit einer sehr speziellen Grammatik. Mit Keigo zum Beispiel, der japanischen Höflichkeitsform. Keigo wird bei formell-beruflichen Anlässen gesprochen: Verschiedene Verbformen sind am hierarchischen Unterschied zwischen Sprecher:in und Angesprochenen orientiert. Die hohe Kunst des Keigo ist heute eher ein Phänomen der Eliten, aber ausgestorben ist es nicht. Die Unterscheidung zwischen dem Du und dem Sie im Deutschen wirkt gegen dieses System fast wie ein Witz.

Ob die legendäre Höflichkeit in Japan nun ein Ausdruck von Emotion ist oder ihr genaues Gegenteil, liegt wohl im Auge des Betrachters. Offensichtlich ist aber, dass eine grammatische Besonderheit wie Keigo einiges über die japanische Kultur und ihre sozialen Gegebenheiten aussagt. Doch gilt das für jede Sprache? Ist die Grammatik immer ein Spiegel der Kultur und ihres Umgangs mit Emotionen?

Kultur und Emotion haben Wirkung auf die Sprache

Die japanische Höflichkeitsform steht jedenfalls nicht allein da. Im Türkischen zum Beispiel gibt es eigene Modalformen, die eine indirekte, vorsichtige Kommunikation unterstützen. So gibt es eine Verbform, die eine Notwendigkeit oder Pflicht ausdrückt, eine andere formuliert einen Vorschlag oder Wunsch, eine weitere steht für rücksichtsvolle Distanzierung. Eine bemerkenswert nuancierte Grammatik, die wohl aus einem empfindlich austarierten Gesellschaftssystem entstanden ist.

Ein weiteres Beispiel: Im Russischen gibt es eine große Zahl von Begriffen, die Traurigkeit in all ihren Facetten bezeichnen. Diese Vielfalt ist aber auch in der Grammatik selbst verankert. Je nach Kasusform und syntaktischer Struktur können Sprechende die Dauer, Intensität und Richtung der Traurigkeit sehr präzise ausdrücken.

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Das Ich und das Wir: Wenn Sprache Gesellschaft spiegelt

Spannend ist auch der Vergleich von Grammatiken in kollektivistischen und individualistischen Gesellschaften (so schwammig diese Unterscheidung auch sein mag). Sowohl in der deutschen als auch der englischen Sprache werden viele Sätze mit dem Personalpronomen „ich“ formuliert. Japaner:innen und Koreaner:innen vermeiden das „ich“ tendenziell und ersetzen es lieber durch „wir“ oder lassen das Subjekt ganz weg. Eine andere Variante ist die passive oder indirekte Formulierung.

Die Grammatik schlägt vor allem auch dann zu, wenn der Inhalt des Gesagten oder Geschriebenen zu einem Konflikt führen kann. Im Deutschen oder Englischen ist es völlig normal, auch gegenüber Vorgesetzten Sätze wie „Ich sehe das anders“ oder „Das stimmt so nicht“ zu formulieren. Asiatische Sprachen tendieren in solchen Situationen zu grammatischen Konstruktionen, die Fragen oder Umschreibungen bilden.

Die Frage bleibt jedoch: Entstehen solche Konstruktionen aus der emotionalen Verfasstheit einer Gruppe? Oder hat die Grammatik umgekehrt Einfluss auf das Gefühlsleben der Sprechenden? Oder trifft vielleicht beides zu?

Eine Hypothese, die bis heute intensiv diskutiert wird

In der Mitte des vergangenen Jahrhunderts wurde die Sapir-Whorf-Hypothese populär. Sie beschäftigte sich mit genau dieser Frage: Beeinflusst die Sprache die Weltsicht der Menschen – oder ist es umgekehrt? Formuliert als das so genannte Prinzip der sprachlichen Relativität besagt die Idee, dass verschiedene Sprachen die reale Welt auf unterschiedliche Weise einteilen und kategorisieren. Jede Kultur macht demnach eigene Erfahrungen und unterliegt eigenen Umweltbedingungen. Die wichtigsten davon gießt sie in sprachliche Konzepte, die eher unwichtigen ignoriert sie. So entstehe eine permanente Wechselwirkung zwischen der Gesellschaft und ihrer Sprache. Gleiches gilt für Mimik und Gestik, die ja genauso einer Art von Grammatik folgen.

Die Hypothese wird bis heute heftig diskutiert. Der Linguist Benjamin Lee Whorf machte sie selbst angreifbar, indem er einige Beispiele nannte, die keinen Bestand hatten: etwa, dass die Sprache der Hopi keine Möglichkeit biete, zeitliche Abläufe zu beschreiben (was nicht stimmt). Oder die bis heute zirkulierende Behauptung, die Inuit hätten eine Unzahl von Begriffen für Schnee (was auch nicht stimmt).

Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts erhielt die Hypothese einen neuen Schub. Je mehr kleine, bis dahin unbekannte Sprachen entdeckt und analysiert wurden, desto deutlicher wurde auch, wie extrem unterschiedlich Grammatiken sein können. Die Forschung an der Wechselwirkung zwischen Emotion und Grammatik verließ allerdings immer häufiger die klassische Linguistik und geriet in den Fokus von Psycho- und Neurolinguistik.

Wut, Freude, Trauer: Sprach-Spuren im Gehirn

Im Jahr 2025 führten chinesische Forschende ein interessantes Experiment durch. Sie zeigten bilingualen Proband:innen Bilder, die diese abwechselnd auf Chinesisch und auf Englisch benennen sollten. Dabei scannten sie im MRT deren Hirnaktivität. Es zeigte sich, dass bei der Verwendung der dominanten chinesischen Sprache die sprachspezifischen Hirnregionen stärker durchblutet wurden. Für die Studienautor:innen unter anderem ein Hinweis darauf, dass die Muttersprache nicht nur leichter zugänglich, sondern auch kulturell tief verwurzelt ist.

Ebenfalls in diesem Jahr unternahm ein amerikanisches Team folgendes wissenschaftliches Experiment, das den Zusammenhang mithilfe des MRT untersucht: Sie zeigten Proband:innen Karten mit emotional besetzten Begriffen, die starke Gefühle wie Zorn, Freude, Trauer oder andere hervorrufen, und beobachteten die dabei einsetzende Ausschüttung von Neurotransmittern im Gehirn. Überraschenderweise wurden im Zuge der Studie auch Hirnregionen aktiviert, die bis dahin nicht mit Sprachverarbeitung in Verbindung gebracht wurden. Offenbar ist Sprache also tief in der neuronalen Architektur verankert.

Die Studienautor:innen ziehen einen seinerseits fast schon emotionalen Schluss aus den Ergebnissen: „[…] stützen diese Daten die Vorstellung, dass die alten Systeme, die sich entwickelt haben, um uns durch die Bewertung positiver und negativer Reize in der Umwelt am Leben zu erhalten, sich auch auf die Verarbeitung von Wörtern erstrecken könnten – die für das Überleben des Menschen wohl ebenso entscheidend sind.“ Viel schöner kann man es nicht sagen.

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